Sexuelle Gewalt: Wer hilft?
Vier Notrufe, trotzdem allein
(18.07.2023) Was muss man tun, damit einer Frau nach einem sexuellen Übergriff geholfen wird? In der Nacht auf den 26.05. beobachten kronehit-Reporter Clemens Draxler und eine Freundin, wie eine junge Frau am Wiener Karlsplatz von einem Mann bedrängt wird. Durch ihr Einschreiten verhindern sie wohl knapp Schlimmeres. Der 20-Jährigen geht es nicht gut, die beiden rufen Hilfe. Zuerst probieren sie es bei drei Notrufen für Frauen. Dann bei der Polizei. Eine Stunde später stehen sie allein mit der 20-Jährigen am Karlsplatz. So richtig helfen kann niemand. Im Folgenden ein Gedächtnisprotokoll, das die Vorkommnisse der Nacht minutiös beschreibt:
Es ist vier Uhr in der Früh am menschenleeren Karlsplatz, als wir beobachten, dass ein Mann mittleren Alters an der jungen Frau zerrt, sie sich heftig wehrt, versucht sich zu entfernen, er sie aber von hinten festhält. Sie schreit laut um Hilfe, wir eilen zu ihr, der Angreifer flüchtet.
Wir setzen uns mit der zittrigen, jungen Frau zum Brunnen und beruhigen sie. Erklären ihr, dass wir bei ihr bleiben und Hilfe holen. Sie spricht kein Deutsch und kaum Englisch, nur slowakisch. Mit Händen und Füßen können wir uns trotzdem verständigen. Sie heißt Maria, ist Anfang 20, kommt aus der Slowakei und schläft auf der Straße. Den Angreifer scheint sie flüchtig zu kennen, nennt ihn immer wieder "Bad friend, Bad friend!".
Vergebliche Notrufe
Dass wir die Polizei rufen, will Maria zunächst nicht. Sie hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Polizisten gemacht, gibt sie uns zu verstehen. Also suchen wir online nach Notrufnummern für Frauen. Bei der Frauenhelpline gegen Gewalt fragen wir, ob jemand vorbeikommen kann oder es eine Dolmetscherin gibt. Wir werden an die Polizei verwiesen.
Danach folgen mehrere Telefonate mit dem Frauennotruf der Stadt Wien und dem Notruf der Wiener Frauenhäuser. Wir betonen die Dringlichkeit, dass die 20-jährige junge Frau wohl nur knapp einem sexuellen Missbrauch entgangen ist, sie unter Schock steht und keine Polizei hier haben möchte, sondern Betreuung, Schutz und eine Frauenunterkunft mit sicherem Setting braucht. Wir bieten an, die junge Frau zu einer beliebigen Adresse zu bringen. Alles nicht möglich. Stattdessen sollen wir die Polizei rufen, oder die 20-Jährige in die Obdachlosenunterkunft P7 bringen. Das P7 öffnet allerdings erst um acht Uhr. Zum Zeitpunkt der Telefonate ist es halb fünf.
Nachdem auch die Notschlafstelle für Jugendliche keinen Platz für Maria hat, bleibt uns nur noch, die Polizei zu rufen. Die junge Frau willigt ein. Sie möchte, dass ihr geholfen wird. Gut eine Stunde nach dem Übergriff kommen zwei junge Polizistinnen. Die beiden Beamtinnen bringen zwar durchaus Verständnis mit, sagen aber: Auch sie können nichts machen. Unsere beste Option wäre, die Jugendliche in die Obdachlosenunterkunft zu bringen. Die Polizistinnen nehmen die Daten der Slowakin auf und fahren wieder. Wir sollen nochmal 133 wählen, sollten wir den übergriffigen Mann sehen.
Damit sitzen wir gut eine Stunde nach dem sexuellen Übergriff allein mit einer ängstlichen, jungen Frau am Karlsplatz und keiner hilft. Die einzige Option, die bleibt: Maria in drei Stunden in eine Obdachlosenunterkunft zu bringen. Wenn wir nicht bei ihr geblieben wären, wäre sie um 5 in der Früh komplett allein am Karlsplatz gestanden. Und das, obwohl wir vier Notrufe gewählt haben. Die junge Frau hätte professionelle Betreuung und Unterkunft in einer Schutzeinrichtung für Frauen gebraucht. So fahren wir stattdessen zu einer Fastfood-Kette, damit sie wenigstens etwas zu essen bekommt.
Das sagen die Notrufe
Nach dem nächtlichen Vorfall habe ich die verantwortlichen Stellen kontaktiert und um Stellungnahmen gebeten. Im kronehit-Nachrichtenpodcast vom 18.07. kann man diese auch nachhören.
Die Geschäftsführerin der Wiener Frauenhäuser, Andrea Brem, bedauert den Vorfall: "Ich glaube, dass wir für diesen konkreten Fall nicht wirklich zuständig waren. Die Frauenhäuser sind zuständig für innerfamiliäre Gewalt. Ich würde trotzdem sagen, dass wir die Frau aufnehmen hätten können. Eine Frau, die in der Nacht bedroht wird, braucht einfach Schutz. Da geht es nicht darum, wer zuständig gewesen wäre.“ Brem will den Fall mit ihren Mitarbeiterinnen nachbesprechen. "Bei uns gilt: Im Zweifelsfall aufnehmen".
Aufgrund der Sprachbarriere war es schwierig, persönlich mit der jungen Frau zu reden, meint Maria Rösslhumer, Leiterin der Frauenhelpline gegen Gewalt. In der Nacht könne allerdings sowieso oft nur an andere Stellen verwiesen werden. Rösslhumer sieht auch ein generelles Problem: „Gerade in der Nacht oder am Wochenende sind uns oft die Hände gebunden. Es gibt oft keinen Platz oder keine adäquate Stelle. Wir bräuchten dringend Übergangswohnungen oder Notplätze, wo Frauen unbürokratisch, ohne Hürde und ohne Schwierigkeiten sofort aufgenommen werden.“
Heidemarie Kargl, die Leiterin des 24-Stunden Frauennotrufs äußert Bedauern: „So wie Sie die Situation beschrieben haben, haben Sie der jungen Frau nach bestem Wissen geholfen. Da unsere Beraterin nicht mit der Betroffenen direkt gesprochen hat, wissen wir nicht Genaueres über ihre Situation und welche Hilfe sie konkret benötigt hätte.“ In 99,99% aller Fälle würde das telefonische Angebot aber sehr gut funktionieren, so Kargl: „Wir sind nur mit sehr wenigen Beschwerden konfrontiert. Und daraus versuchen wir natürlich auch zu lernen.“
Die Polizei meint in ihrem Statement, bei akuter Gefahr für alle Frauen, da zu sein: "Wir betreuen betroffene Personen in der Erstphase, um eine Gefahr bzw. eine Bedrohung abzuwenden. Präventive Maßnahmen können im Einzelfall veranlasst werden, sofern es die jeweilige Situation erfordert. Im Anlassfall können Personen auf die Dienststelle mitgenommen und dort dann an die zuständigen Stellen übergeben werden", so Polizeisprecher Markus Dittrich.
Nur ein Ausnahmefall?
Die zuständige Frauenstadträtin Wiens, Kathrin Gaàl, sieht kein generelles Problem, sondern spricht von einem Ausnahmefall: "Leider ist bei Ihrem Kontakt mit den Notrufen nicht alles glatt gelaufen. Grundsätzlich handeln die Wiener Frauenhäuser nach dem Prinzip „Im Zweifelsfall aufnehmen“, dies ist auch auf der Handlungsanleitung für die Mitarbeiterinnen „fett“ hervorgehoben. Das hätte im konkreten Fall auch geschehen sollen. Als Konsequenz haben intensive interne Gespräche stattgefunden." Laut Gaàl sollen die Angebote für Frauen noch weiter ausgebaut werden. Das Wiener Ziel wäre "jeder Frau, die von Gewalt betroffen ist, Schutz und Zuflucht zu bieten."
Statt Betreuung zum Bahnhof
Über Google Translate haben wir der 20-jährigen Maria schlussendlich ihre Optionen erklärt. In die Obdachlosenunterkunft wollte sie nicht. Allein auf der Straße bleiben möchte sie nach dem Übergriff auch nicht. Schlussendlich entscheidet sie sich, zurück in die Slowakei fahren zu wollen. Gegen 07:30 kaufen wir ihr ein Zugticket und setzen sie in den Zug nach Bratislava. Dass sie dort irgendeine Form von Betreuung erhält, wage ich zu bezweifeln.
Dass Gewalt gegen Frauen auch bei uns in Österreich zum traurigen Alltag gehört, zeigt nicht nur dieser Vorfall. Jede dritte Frau in Österreich hat ab dem Alter von 15 Jahren körperliche und/ oder sexuelle Gewalt erleben müssen, so Zahlen der Statistik Austria. Wenn daher nach einem sexuellen Übergriff vier Notrufe ins Leere laufen, schrillen die Alarmglocken. Für Frauen, die Hilfe brauchen, gibt es – trotz zahlreicher Angebote – offenbar nicht immer die Hilfe, die sie gebraucht hätten. Für den Schutz von Frauen muss noch viel getan werden.
(Clemens Draxler)